📔 Tagebucheintrag: Zwischen Instinkt und Überlebensstrategie
18. Juni 2025
Gestern war ein Tag, der auf ungeschönte Weise zeigte, wie sehr sich der Instinkt bei Weißstörchen bemerkbar macht.
Normalerweise bleibt ein Altstorch in den ersten vier bis fünf Lebenswochen der Küken nahezu dauerhaft im Nest, um die Jungen zu schützen – vor Überhitzung, Kälte, Feinden. Erst wenn wirkliche Not herrscht, entscheidet er instinktiv, das Nest zu verlassen.

Und genau das ist passiert.
Eine Webcam lässt viele Zuschauer – mich eingeschlossen – fassungslos vor dem Bildschirm sitzen.
Man schaut zweimal:
„Ist sie wirklich abgeflogen?“
Ja, Kaira ist es.
Sie musste.
🐣 Zwischen Wachstum und Hunger
Die Küken sind inzwischen deutlich aktiver:
- Sie spielen mit Halmen
- Sie koten gezielt rückwärts, um das Nest sauber zu halten
- Man erkennt bereits die Kiele der Schwungfedern
- Und ihre Bewegungen werden kräftiger

Mehr Aktivität heißt: mehr Energieverbrauch, mehr Grundumsatz. Und das bedeutet: mehr Hunger.
Dazu braucht es keine Fachliteratur – das ist Biologie.
Ob Mensch oder Tier: Ein wachsender Körper braucht Nahrung als Treibstoff.


Auch wir Eltern spüren instinktiv, was unser Kind braucht – sei es Hunger, Nähe oder Windelwechsel. Genau so, wenn ich diesen Vergleich wagen darf, spürt auch Kaira, was ihre Küken brauchen.
Und sie handelt.
⚖️ Risiko und Not – Kairas schwere Entscheidung
Kaira hat bereits früher das Nest verlassen – doch die Küken waren kleiner, der Energiebedarf geringer.
Gestern jedoch wurde klar: Sie muss weg. Sie muss Futter suchen.
Zuerst fliegt sie kurz nach links ins Feld – kommt zurück, ohne Futter.
Wenig später fliegt sie erneut – diesmal nach rechts, in die Richtung, aus der Alexander am Vortag zurückkehrte.
Doch diesmal kehrt nur Kaira zurück – ohne Alexander, ohne Futter.

Hat sie ihn gezielt gesucht?
Wir wissen es nicht – aber möglich wäre es.
Später fliegt sie noch ein drittes Mal ab, diesmal unten bei den Hühnern, also nahe beim Horst.
Doch auch hier bleibt sie einige Zeit außer Sicht, die Küken sind ungeschützt – und Gefahren wie Greifvögel oder sogar Krähen könnten diese Gelegenheit nutzen.
Hier zeigt sich deutlich, was „Not“ beim Altstorch bedeutet:
Kaira wägt ab – und geht bewusst das Risiko ein.
Sie verlässt ihre Jungen, um irgendwie an Futter zu kommen – und hofft, dass sie bei ihrer Rückkehr alle unversehrt wiederfindet.
Alexander kehrte erst gegen 21:30 Uhr zurück – ohne Futter.
💬 Reaktionen – und meine Gedanken
Im Chat war die Enttäuschung groß.
Und ja – auch ich spüre Mitgefühl.
Aber: Wir dürfen unsere menschlichen Maßstäbe nicht auf Tiere übertragen.
Es gibt keine Schule, in der Störche lernen, wie man seine Brut versorgt. Kein „Paartherapieangebot“ auf dem Horst.
Was wir sehen, ist das reale Leben – mit all seinen Schwächen, Unsicherheiten und individuellen Wegen.

🔬 Was sagt die Wissenschaft?
Ich habe mir Gedanken gemacht, was hinter Alexanders Verhalten steckt – und bin auf zwei mögliche Erklärungen gekommen (wobei ich ausdrücklich keine Fachfrau bin!):
1. Unerfahrenheit / Erstbrut
Alexander wirkt oft unbeholfen.
Beobachtungen aus verschiedenen Studien (z. B. Tryjanowski et al., 2009) zeigen, dass junge Weißstörche in ihrer ersten Brutsaison deutlich weniger effizient füttern, seltener decken, und längere Abwesenheiten zeigen, vor allem, wenn die Nahrungslage schwierig ist.
2. Fehlende Paar- und Horstbindung
Kaira war nachweislich zuerst auf dem Horst. Alexander kam später dazu – und bereits zwei Tage nach der ersten Paarung wurde das erste Ei gelegt.
Laut einer Verhaltensstudie von Wuczyński (2005) zur Nestwahl zeigt sich:
Wenn das Weibchen zuerst ankommt, ist die Nestbindung des Männchens oft schwächer. Es fehlt die sogenannte territoriale „Verwurzelung“, die normalerweise durch frühe Ankunft und Nestvorbereitung entsteht. Auch waren nach dem zweiten Ei keine weiteren Paarungen mehr gesehen. Viele Webcam-Horste zeigen, das es von der ersten Paarung, also dem Tretakt, bis zur ersten Eiablage 10-14 Tage dauert. Zeit in der sich das Paar bindet und findet. Das Nest gemeinsam errichtet und die Zweisamkeit auch durch geknibbel z.b. zu beobachten, benötigt. Selbst bei langjährigen Partnern ist diese Zeitspanne zu sehen.

Auch die Studie Cabodevilla & Aguirre (2019) beschreibt, dass sich die Brutkoordination bei frisch gebildeten Paaren häufig erst nach mehreren Jahren stabilisiert.
Fehlverhalten, ungleichmäßige Lastenverteilung und instabile Rollenmuster sind keine Seltenheit. Sehr gut bei Alexander zu sehen, der uns oft sehr unbeholfen rüberkommt. Manchmal denkt man wirklich wenn er zurückkommt: „Hoppla, da war ja was.“ Oder auch wenn beide Nachts im Nest sind, das er sehr am Rand sich positioniert. Ob dies nun wirklich darauf zurückzuschliessen ist, kann ich nicht beantworten. Aber es fällt auf. Auch wird oft wenig geklappert zur Begrüßung. Teilweise auch überhaupt nicht.
📝 Fazit
Gestern war ein Tag, der gezeigt hat, wie instinktiv und gleichzeitig risikobehaftet das Handeln der Störche ist.
Kaira kann das schaffen.
Aber erst dann, wenn ihre Küken alt genug sind, um sich selbst eine Zeit lang zu schützen. Bei zwei Jungstörchen ist das definitiv für einen Altstorch zu managend. Oder 1.5 Altstörche (Zwinker).
Bis dahin bleibt es ein Balanceakt zwischen Not, Instinkt, Risiko – und der Hoffnung, dass auch Alex bald seine Rolle erkennt.